Der Nachteil am alten viktorianischen London? Ganz schlechte Internetverbindung. Die könnte aber selbst der cleverste Privatdetektiv der Welt gut gebrauchen. Willkommen im 21. Jahrhundert, Mr. Holmes.
Sherlock (2010- ) – Die Story
Drehbuch Episode 1: Steven Moffat
Auch im neuen Jahrtausend ist London verdammt teuer. Also zieht der ehemalige Militärarzt Dr. Watson in eine preiswerte WG. Was er an Geld spart bezahlt er aber an Nerven, denn sein WG-Genosse ist ein nicht gerade pflegeleichter Privatdetektiv. Sherlock Holmes (Benedict Cumberbatch) besitzt eine begnadeter Kombinationsgabe, hat dafür aber deutliche Schwächen in Punkto Sozialkompetenz. Bühne frei für eine der berühmtesten Wohngemeinschaften der Literaturgeschichte und jede Menge abenteuerliche Kriminalfälle.
Die Einführung von Sherlock Holmes
Der durch den Einsatz im Afghanistan-Krieg traumatisierte Militärarzt Dr. Watson wird von seiner Psychiaterin dazu angehalten, doch zur Bewältigung seines Traumas einen Blog über sein Leben zu schreiben. Problem: da passiert eigentlich nichts. Dass dies sich bald ändern könnte zeigt dann aber die folgende Sequenz, in der sich drei Menschen an unterschiedlichen Orten mit einer mysteriösen Pille das Leben nehmen. Auf einer Pressekonferenz zu den Fällen versucht Inspektor Lestrade die neugierigen Reporter zu besänftigen. Als er diesen erklärt, dass zwischen diesen drei Toten sicher irgendein Zusammenhang bestehen muss, klingeln auf einmal alle Handys im Raum. Jeder hat eine Textnachricht mit nur einem Wort erhalten: „Falsch!“
Die Polizisten bitten die Anwesenden diese Nachricht zu ignorieren. Im Verlauf der Pressekonferenz werden bestimmte Aussagen der Polizei aber noch zweimal auf diese Art und Weise von dem Unbekannten kommentiert. Und Inspektor Lestrade bekommt dann noch eine persönliche SMS, in dem sich der Unbekannte als „SH“ outet. Und Lestrade schreibt, dass dieser ja wisse, wo er ihn finden könne. Während die Polizisten sich darüber ärgern, schon wieder von diesem „SH“ lächerlich gemacht worden zu sein, trifft der gute Watson derweil einen ehemaligen Studienkollegen. Dieser erzählt ihm von einem Bekannten, mit dem Watson in eine WG ziehen könnte um Geld zu sparen.
Cut auf Sherlock Holmes, der in der Gerichtsmedizin einen Leichensack öffnet. Und dann mit einer Reitgerte auf den Leichnam einschlägt. Sehr zur Irritierung der anwesenden Gerichtsmedizinerin Molly, die eigentlich ja ein bisschen mit dem guten Sherlock flirten wollte. Sherlock verlagert seine „Recherche“ dann in ein Labor, in welches kurz darauf Watson und dessen Studienkollege einmarschieren. Zur Verblüffung von Watson scheint Holmes bereits alles über ihn und sein Anliegen zu wissen. Und Sherlock schlägt auch gleich eine gemeinsame Wohnungsbesichtigung vor. Das geht unserem ehemaligen Militärarzt dann doch etwas zu schnell. Sollte man sich nicht erst einmal kennenlernen? Diese Vorlage läßt sich Sherlock nicht entgehen. Und rattert atemberaubende Schlussfolgerungen über das Leben von Watson herunter, bevor er sich von dem sprachlosen zukünftigen WG-Genossen verabschiedet.
Die Analyse:
Ja, wir feiern hier eine kleine Premiere. Die erste Figur in diesem Blog, die dem Zuschauer zu Beginn via SMS eingeführt wird. Sherlock sehen wir nicht als Erstes, wir lesen ihn. Und es dauert dann schon seine Zeit, bis wir den Meisterdetektiv überhaupt das erste Mal zu Gesicht bekommen. Dabei läßt sich die Einführung von Sherlock grob in drei Stufen unterteilen. Und jede dieser Stufen verstärkt noch einmal den Eindruck, den wir bereits bei dessen ungewöhnlichem ersten SMS-Auftritt von unserem Protagonisten erhalten haben.
Los geht es mit der etwas ungewöhnlichen Pressekonferenz. Und der Erkenntnis, dass nur ein Wort manchmal unglaublich viel über einen Menschen aussagen kann. Alles eine Sache des Kontexts. Die erste „Wortmeldung“ von Holmes erfolgt, als dieser mit den Schlussfolgerungen der Polizei nicht d’accord ist. Unsere Hauptfigur hält sich für klüger als die Polizei. Die zweite „Falsch“-SMS folgt dann an einer anderen Stelle, nämlich als Lestrade behauptet, dass die besten Männer an dem Fall dran wären. Auch das verneint Sherlock. Der Junge wird immer selbstbewusster – und arroganter. Und seine dritte Nachricht widerspricht der Aussage von Lestrade, dass die Menschen da draußen sicher seien. Pädagogisch jetzt nicht gerade ein wertvoller Beitrag zur Beruhigung der Bevölkerung. Der zeigt, dass es mit der Sozialkompetenz unseres Protagonisten wohl nicht so weit her sein kann.
Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder
Natürlich ergibt sich aus dieser Ketten-SMS-Aktion noch eine weitere Eigenschaft der Figur. Sie ist offensichtlich nicht auf den Kopf gefallen, denn für so eine koordinierte Spam-Maßnahme braucht es dann doch schon etwas Hirnschmalz. Womit wir dann die zentralsten Eigenschaften des Meisterdetektivs bereits jetzt schon eingeführt hätten. Er ist clever, arrogant, hat keinen Respekt vor Autoritäten und scheint nicht wirklich Rücksicht auf die Gefühle anderer zu nehmen. Und das alles mit einer einzigen Nachricht, die in drei verschiedenen Kontexten eingesetzt wurde. Da müssen wir uns dann an dieser Stelle doch mal verneigen – diese Einführung ist einem Meisterdetektiv wahrlich würdig.
Diese zentralen Eigenschaften werden in den nächsten Minuten nun wieder und immer wieder in die Köpfe der Zuschauer gehämmert. Das Holmes Lestrade anschließend schreibt, dass dieser ja wisse wo er ihn finden könne, stellt die Machtverhältnisse endgültig klar. Und im Anschluß an die desaströse Pressekonferenz wirft eine Kollegin Lestrade auch noch vor, nichts gegen diese ständigen Bloßstellungen zu unternehmen. Lestrade gibt zu, dass er das gerne ja tun würde, wenn er nur wissen würde wie. Unsere Hauptfigur, von der wir bisher ja nur ein Namenskürzel kennen, wird so nur noch weiter überhöht.
Flirten verboten
Wiedereinmal hier im Blog haben wir es also mit einer Figur zu tun, die bereits vor ihrem ersten optischen Auftritt bereits dem Zuschauer ins Gedächtnis gerufen wird. Eine ähnliche Vorankündigung folgt dann noch einmal, als Watson seinem Studienkollegen mitteilt, dass wohl keiner freiwillig mit ihm in eine WG ziehen würde. Genau das hätte er heute schon einmal gehört lautet dessen Antwort – gemeint ist natürlich Sherlock. Womit Sherlocks nicht gerade sozialverträgliche Seite natürlich noch einmal betont wird. Direkt gefolgt wird das mit einem Cut auf Holmes, der sich über einen Leichensack beugt. Zeit für Stufe 2 der Einführung.
Wie Sherlock Holmes mit morbider Neugier in einen Leichensack blickt ist ein wundervoller erster visueller Eindruck unserer Hauptfigur. Beruflicher Hintergrund und Charakterzug in einem Bild – sehr schön gelungen. Die folgende Szene unterstreicht dann nicht nur Holmes kriminalistische Passion, sondern ebenfalls dessen selbstbewussten Charakter. Im Befehlston wird die Reitgerte von der eher schüchternen Gerichtsmedizinerin angefordert und dann wie wild auf die Leiche eingeschlagen. Da ist jemand von seinem Beruf mehr als nur besessen. Das er den frisch aufgetragenen Lippenstift der Gerichtsmedizinerin bemerkt spricht dann wiederum für Holmes schnelle Auffassungsgabe. Die aber in Punkto Sozialkompetenz nun so gar nicht vorhanden ist. Denn das dieser frisch aufgetragene Lippenstift und die Einladung zum Kaffee ein Flirtversuch der Gerichtsmedizinerin Molly sind, erkennt unser Junge nicht. Exzentrisch, besessen, clever und sozial inkompetent – so langsam verfestigt sich das Bild.
Kombinationsfeuerwerk mit Knalleffekt
Abgeschlossen wird die Einführung von Holmes aber erst mit der nächsten Szene: Stufe 3. Im Labor zeigt sich der Charakter der Figur nun in seiner ganzen Pracht. Konsequent werden die bisher angedeuteten Charaktereigenschaften nun auf die Spitze getrieben. Watson bekommt ein wahres Kombinationsfeuerwerk des Meisterdetektivs serviert, dass dessen intellektuelle Sonderstellung nun eindrücklich auf den Höhepunkt treibt. Gleichzeitig wird die soziale Kälte der Figur ebenfalls auf ein neues Level gehoben. Nicht nur durch seine überfallartige Einladung an Watson zur gemeinsamen WG-Besichtigung. Sondern vor allem durch eine abfällige Bemerkung gegenüber der Gerichtsmedizinerin. Die hat mangels Erfolgschancen ihren Lippenstift wieder abgetragen und darf sich von Holmes nun anhören, dass ihr Mund ja nun viel zu klein aussehen würde. Einfühlsam geht anders.
Und erst jetzt, als wir die Figur sozusagen in ihrer höchsten Schaffenskraft erleben, gibt diese dem Zuschauer ihren Namen preis. Und für den richtigen Knalleffekt wird dieser dann auch noch gleich mit einer der wohl berühmtesten Adressen der Literaturgeschichte kombiniert. Mit einem schwungvollen „Mein Name ist Sherlock Holmes und die Adresse ist 221B Baker Street“ verabschiedet sich Holmes nun vom verdutzten Watson. Ein perfektes Ende für eine über mehrere Stufen sich stetig steigernde Charaktereinführung. Gerade weil sich die erste Folge soviel Zeit dafür nimmt, die Figur ganz langsam und geheimnisvoll einzuführen, ist dieser Auftritt dann auch so eindrucksvoll. Eine wundervoll runde Einführung, die den Zuschauer erst rätseln läßt, dann konsequent Schritt für Schritt die Figur aufbaut, um dann mit einem großen Knall dem Publikum den Namen unseres Helden entgegenzuwerfen. So sieht gelungener Charakteraufbau aus.