Handwerkliche Qualitätsarbeit ist nicht leicht zu finden. Braucht es aber gerade bei einem Tornado. Wäre wohl immer noch in Kansas, wenn sie sich einen deutlich robusteren Unterschlupf gesucht hätte: Dorothee Gale.
Der Zauberer von Oz (1939) – Die Story
Drehbuch: Noel Langley, Florence Ryerson, Edgar Allan Woolf
Gemeinsam mit ihrem Onkel, ihrer Tante und ihrem kleinen Hund Toto lebt das junge Mädchen Dorothee auf einer kleinen Farm in Kansas. Bis eines Tages ein Wirbelsturm das Farmhaus, samt Dorothee und Toto, mitreißt und die zwei in eine mysteriöse Welt voller Hexen, sprechender Tiere und magischer Abenteuer transportiert.
Den ganzen Film gibt es hier zu sehen.
Die Einführung von Dorothee Gale
Genauso eilig wie ängstlich läuft die junge Dorothee mit ihrem Hund Toto über einen Feldweg in Richtung heimische Farm. Dort angekommen möchte das aufgebrachte Mädchen eigentlich ihrer Tante und ihrem Onkel davon erzählen, wie die unfreundliche Frau Gulch ihren armen Toto misshandelt hat. Onkel und Tante sind aber leider gerade zu beschäftigt und so klagt Dorothee, aus Mangel an Alternativen, den drei Arbeitern Hunk, Zeke und Hickory ihr Leid.
Mehr Mut zeigen, mehr Köpfchen nutzen– mit diesen Tipps der Jungs kann Dorothee aber nicht viel anfangen. Stattdessen balanciert sie zur Ablenkung lieber leichtsinnig auf einem Zaun herum. Und liegt kurz darauf hilferufend im Schweinestall. Die drei Arbeiter retten das Kind und kommen danach ins Plaudern – aber nicht lange. Die Tante von Dorothee sprengt die Runde und erinnert alle noch einmal streng an deren Arbeitsethos. Und Dorothee bekommt die explizite Anweisung, sich doch zur Abwechslung einfach mal aus allen Problemen herauszuhalten. Aber ob so ein Ort ohne Probleme wirklich existiert? Bei so einer poetischen Frage, kann man schon mal ins Singen kommen und so träumt Dorothee anschließend mit zuckersüßer Kinderstimme von einem Ort „Somewhere over the rainbow“.
Die Analyse
Vor kurzem haben wir uns ja hier unter anderem damit auseinandergesetzt, wie Tierliebe selbst einen kampfwütigen Feldherren richtig sympathisch aussehen läßt. Wie das aber wohl erst ist, wenn man ein Tier einem sowieso schon niedlichen Kind an die Seite stellt?
Prinzipiell hat man es bei der Einführung der Hauptfigur in Sachen Sympathie natürlich etwas leichter, wenn es sich dabei um ein Kind handelt. Außer vielleicht man heißt Regan und wartet gerade auf den örtlichen Exorzisten. Gerade bei einer richtig teuren Mainstreamproduktion kann es aber natürlich nicht schaden, bei der Einführung des kleinen Helden in Sachen Empathie des Publikums doch lieber auf Nummer sicher zu gehen. Und deswegen blicken wir hier einmal auf eine der frühesten berühmten Kinderrollen der Kinogeschichte.
Zuckerguss für unsere Hauptfigur
Wir treffen die gute Dorothee gleich in der ersten Aufnahme nicht alleine an sondern zusammen mit dem süßen kleine Hund Toto, der ihr auch für den Rest des Filmes nicht von der Seite weichen wird. Liebevoll versucht sie in dieser ersten Szene den kleinen Racker zu beruhigen und alleine diese simple Interaktion zwischen Mensch und Tier sorgt doch gleich für ein wohliges Gefühl beim Zuschauer. Die Botschaft: Dorothee ist ein einfühlsames Mädchen.
Das die Liebe einer Figur zu niedlichen Tieren auf das Publikum abstrahlt nutzt der Film wenige Sekunden später gleich noch einmal. Und legt beim Niedlichkeitsfaktor sogar noch eine Schippe obendrauf. Als Dorothee mit Onkel und Tante spricht erfährt sie, dass der Brüter des Hofes wohl defekt ist und wahrscheinlich einige Küken sterben werden. Instinktiv greift sie nach einem bereits geschlüpften Küken, drückt es sich an die Wange und bedauert die Situation. Kleiner süßer Hund, kleines süßes Küken und jedes Mal hat unsere Protagonistin liebevolles Verständnis für deren Notsituation. Ganz schön viel Zuckerguss auf der sowieso schon sehr kalorienhaltigen Charaktertorte, aber sicher ist eben sicher.
Von Schwächen und Stärken
Das mit der Sympathie hätten wir also schnell geklärt. Aber wie tickt dieses Mädchen nun? Mit einem konstanten Redeschwall bombardiert Dorothee ihre Umgebung und kämpft um Aufmerksamkeit. Dabei beantwortet sie Fragen, die sie selbst stellt, im Eifer des Gefechts auch gleich selbst. Wieso auch lange auf Antworten warten. Nein, dieses Kind ist nicht auf den Kopf gefallen und durchaus wild und widerspenstig. Was, dank der liebevollen Aufmerksamkeit, die sie den Tieren widmet, vom Publikum aber eher als sympathische denn negative Eigenheit wahrgenommen wird. Dazu, und das ist ebenfalls entscheidend, ist sie ja auch durchaus im Recht. Schließlich hat die böse Nachbarin ja ihren Hund geschlagen.
Womit wir wieder bei einem ähnlichen Szenario wie dem in unserer Gladiatoren-Einführung vom letzten Mal angelangt wären. Charaktereigenschaften, die eventuell negativ ausgelegt werden könnten, kann man clever dadurch abfedern, in dem man vorher genug auf die Sympathietaste drückt. Zusätzlich etabliert man dann auch noch ein paar sympathische Schwächen, welche die Figur menschlicher und nahbarer erscheinen lassen (und für eine erfolgreiche Heldenreise ja auch zwangsläufig nötig sind) und schon steht der enge Bund mit dem Publikum. In Dorothees Fall werden die Schwächen von den drei Arbeitern auf dem Hof angesprochen: mehr Mut, weniger Angst und eine Portion mehr Grips bitte, junge Dame.
Ein Lied als Reiseführer
Passend dazu ist, dass Dorothee diese Ratschläge erst einmal ignoriert und stattdessen, uneinsichtig wie sie ist, lieber auf dem Zaun des Schweinestalls balanciert. Es wird offensichtlich, die Dame hat ein kleines Problem mit Autoritäten. Das man ihr das aber auch als eher sympathische Schwäche durchgehen läßt, liegt an der Reaktion der Arbeiter auf ihren selbstverschuldeten Unfall. Nach der Rettung aus dem Schweinestall ist die Stimmung relativ schnell wieder heiter und es wird deutlich, dass die drei Jungs das Mädel viel zu gerne haben, um ihr richtig böse zu sein. Diese Validierung durch eine Art unparteiischen Dritten ist ein cleverer Schachzug, um die Figur der Dorothee weiterhin im Sympathieorbit des Publikums kreisen zu lassen.
Gleichzeitig hat man nun aber auch erfolgreich an der Spannungskurve gedreht und die Konsequenz für all die Flausen im Kopf bekommt Dorothee nun von ihrer Tante in Form einer kleinen Brandrede serviert: „Find yourself a place where you won’t get into any trouble!“ Ein Ort ohne Probleme, den muss man auch erst einmal finden. Und so steuert der Film auf den eigentlichen Höhepunkt der Einführung zu, Dorothees sehnsüchtige Darbietung von „Somewhere over the rainbow“. Womit dann auch das Hauptmotiv der Heldin etabliert ist. Die Sehnsucht nach einem Ort ohne Probleme.
Charme für die Massen
Es wird knapp zwei denkwürdige Filmstunden brauchen, bis Dorothee realisiert, dass der schönste Ort der Welt noch immer das eigene Zuhause ist. Noch aber darf sie lautstark von diesem Ort träumen, natürlich wieder begleitet von ihrem niedlichen vierbeinigen Begleiter. So sind es ganz simple Mittel, mit denen unsere Hauptfigur hier eingeführt wird – aber eine fehlende Tiefe bedeutet ja nicht zwangsläufig auch fehlenden Charme. Und wäre vielleicht für ein massentaugliches Märchen auch eher kontraproduktiv. So, und jetzt alle bitte…