Serie

Waleri Legassow – Chernobyl

Für die Wahrheit zu kämpfen kann genauso heldenhaft wie ermüdend sein. Rettet viele Leben, nur nicht sein eigenes: Waleri Legassow.

Chernobyl (2019) – Die Story

Drehbuch Episode 1: Craig Mazin
26. April 1986. Eine Explosion im russischen Kernkraftwerk von Tschernobyl verursacht die größte Nuklearkatastrophe der Menschheitsgeschichte. Die meisten Politiker und Verantwortlichen möchten die Sache vertuschen. Nicht so der von der Regierung entsandte Experte Waleri Legassow (Jared Harris), dem das schreckliche Ausmaß des Ereignisses schnell bewusst wird.

Die Einführung von Waleri Legassow

Die Aufnahme eines Kassettenrekorders wird abgespielt. Die Stimme von Waleri Legassow ertönt vom Band. Sie erzählt uns, wie gefährlich Lügen sind. Wir sind in der Wohnung von Waleri, sehen Unterlagen auf einem Schreibtisch, eine noch brennende Zigarette in einem Aschenbecher. Legassow spricht weiter. Über eine Geschichte und ihren Schuldigen: Anatoli Djatlow. Ein arroganter Zeitgenosse, der in der besagten Nacht, von der diese Geschichte handelt, die Befehle gab. Und der jetzt die nächsten 10 Jahre im Arbeitslager verbringen darf, aber doch eigentlich den Tod verdient.

Die Kamera fährt derweil in die Küche der Wohnung und gibt den Blick auf den Sprecher am Küchentisch frei. Waleri Legassow stoppt das Band, trinkt einen Schluck Wasser und spricht dann eine neue Aufnahme ein. Er klagt darüber, dass ja so viele schuldig sind. Aber die da oben werden das, wie immer, natürlich bestreiten. Waleri stoppt das Band. Er packt diese und weitere bespielte Kassetten ein und versteckt diese heimlich in einer kleinen Gasse neben seiner Wohnung. Unbemerkt von einem mysteriösen Mann, der ihn aus einem Auto heraus beobachtet. Waleri kehrt in die Wohnung zurück, stellt seiner Katze Futter hin, raucht eine Zigarette und erhängt sich.

Waleri Legassow in "Chernobyl" - Zitat

Die Analyse:

Spoiler: Bald werden wir hier die Einführung von Dale Cooper bei „Twin Peaks“ unter die Lupe nehmen. Und sehen, wie dort mit Hilfe eines Diktiergerätes Charaktereinführung betrieben wird. Scheint ein beliebtes Mittel zu sein, denn „Chernobyl“ nutzt es ebenfalls. Hier muss der Protagonist aber nicht (wie bei „Twin Peaks“) 34 Minuten zum ersten Auftritt warten. Stattdessen legen wir direkt los und bekommen, dank eines kleinen Zeitsprungs, gleich noch einen Ausblick (oder besser Rückblick) auf die anstehende Geschichte geliefert.

„Chernobyl“ beginnt also mit dem Ende. Der Selbstmord von Waleri ist eigentlich der Schlusspunkt der Geschichte, wird hier aber dazu genutzt, uns einen kleinen stimmungsvollen Ausblick auf die kommenden fünf Folgen zu geben. Und natürlich, um uns schon einmal mit dem zentralen Protagonisten vertraut zu machen. Natürlich ist es immer auch eine taktische Entscheidung, ob man das Ende der Hauptfigur nun bereits gleich zu Beginn verrät. Eigentlich killt man so ja die Spannung. Trotzdem kann dieses Vorgehen auch durchaus nützlich und angebracht sein.

Waleri Legassow in "Chernobyl"
Eine Botschaft für das Volk. Waleri rechnet mit dem System ab (Foto: ©Polyband/WVG).

Happy End gibts woanders
Im Fall von „Chernobyl“ ist die Haupthandlung des Filmes den meisten Menschen ja ein Begriff. Und das Schicksal von Waleri selbst ja nicht der zentrale Aspekt der Storyline. Stattdessen liegt der Fokus von „Chernobyl“ stärker auf den politischen Hintergründen, vielen „dokumentarischen“ Details und der alles überschattenden Tragik. Es ist also eher risikolos, gleich mit der Information über den Tod der Hauptfigur rauszurücken. Womit man diesen dann als effektvolles Mittel nutzen kann, damit der Zuschauer gleich mal in die richtige Stimmung kommt. Ein drastischer Einstieg, um das Publikum auf die Tragik der kommenden Ereignisse vorzubereiten. So läuft der Hase hier, das wird keine Geschichte mit Happy End.

Abgesehen von der tragischen Stimmung, welche die Einführung von Waleri Legassow ausstrahlt, hat die Eröffnungssequenz natürlich auch noch weitere Ziele. In seiner großen Anklage, die Legassow auf Band spricht, ist natürlich auch noch Exposition in Bezug auf die generelle Handlung der Serie versteckt. Es ist von einem schrecklichen Ereignis, dem „Schuldigen“ Anatoli Djatlow und politischen Machenschaften die Rede. Ein klassischer Teaser auf das was noch kommen mag, abgerundet durch den Freitod von Legassow, der diese Ereignisse noch einmal in ein noch dramatischeres Licht rückt. Dranbleiben, hier wird es dramatisch zugehen, so die Botschaft.

Waleri Legassow in "Chernobyl"
Whistleblower arbeiten gerne im Dunkeln. Waleri versteckt die Tonbänder (Foto: ©Polyband/WVG).

Ein Freund der Wahrheit
Und dann wäre da natürlich noch unsere Hauptfigur selber. Viele harte Fakten erfahren wir nicht über sie, mal abgesehen davon, dass Legassow offensichtlich auch eine größere Rolle in diesem Puzzle zukommen muss. Ansonsten gibt es aber keine Details zu seinem Job, Familienstatus oder Alter. Was wir aber sehr wohl bekommen ist eine klare Positionierung der Hauptfigur auf der Moralskala. Denn diese Charaktereinführung hat vor allem ein Ziel bezüglich seines Protagonisten: diesen als einen der Guten zu etablieren.

Das beginnt schon mit Waleris ersten Worten, in denen er über die Gefahren von Lügen philosophiert. Es wird deutlich: Unser Protagonist ist ein Freund der Wahrheit. Womit die Figur schon gleich zu Beginn ein sehr enges Band mit dem Zuschauer knüpft. Schließlich rangieren wahrheitsliebende Protagonisten ganz oben auf der Sympathieskala. Die Tatsache, dass Legassow hier heimlich Kassetten mit unbequemen Wahrheiten bespricht, und diese dann versucht herauszuschmuggeln, verleiht ihm dann die Aura eines Whistleblowers. Der kleine Fisch, der versucht die unbequeme Wahrheit mit der Welt zu teilen. Gegen den Willen der korrupten übermächtigen Politik, die hier symbolisch von dem Mann im Auto, der Waleri überwacht, verkörpert wird. Mit so einer Underdog-Hauptfigur muss man sich ja zwangsläufig identifizieren.

Waleri Legassow in "Chernobyl"
Was nun? Waleri reflektiert über sein Leben (Foto: ©Polyband/WVG).

Die Hauptfigur als Opfer
Verstärkt wird dieser positive Eindruck dann auch noch einmal durch Waleris nachdenkliche Anmerkung, dass er ja viel Gutes getan hätte. Dass er sich nach dieser Aussage trotzdem auch selbst mitanklagt, und die Schuld nicht nur bei anderen sucht, läßt die Figur reflektiert und einsichtig wirken. Und das ist natürlich auch richtig gut fürs Protagonisten-Karma. „Chernobyl“ setzt also in den ersten Minuten alles daran, diese Figur so sympathisch wie möglich erscheinen zu lassen.

Gleichzeitig bringt die Serie aber auch noch eine zweite Ebene mit ins Spiel. Und das ist die Tragik dieser Figur. Eine Tragik, die gewissermaßen symbolisch für die ganzen Ereignisse rund um Tschernobyl steht. „Chernobyl“ zeigt uns Waleri als gebrochenen Mann, der mit letzter Energie die Wahrheit aus sich herauspresst. Es hätte nicht erst das mit Blutflecken übersäte Taschentuch gebraucht, um zu erahnen, dass diese Figur von den Ereignissen rund um „Chernobyl“ spürbar gezeichnet ist. Es gibt keine Gewinner in dieser Geschichte, nur Opfer.

Waleri Legassow in "Chernobyl"
Die Kamera pirscht sich langsam an unseren Protagonisten heran (Foto: ©Polyband/WVG).

Ein tragischer Held
Diese Tragik der Figur wird alleine schon durch das Setting verstärkt. Eine triste Nacht in einer noch tristeren Wohnung. Alleine das kühle Licht, in welches Waleri gehüllt ist, verrät uns schon einiges über seinen Seelenzustand. Wie so oft wird übrigens auch diese Figur erst einmal nur ganz langsam für den Zuschauer enthüllt. Erst bekommen wir nur ihre Stimme zu hören, dann fährt die Kamera ganz vorsichtig in Richtung Küche, um dort ebenfalls zögerlich den Blick auf unseren Protagonisten freizugeben. Klassischer Spannungsaufbau bei der Charaktereinführung.

Wer genauer hinsieht wird bei der Einführung von Waleri aber auch noch ein paar schöne kleine Details entdecken. Nur wenigen wird dabei auffallen, dass die Uhrzeit seines Todes voller Symbolik steckt. Es ist die genaue Uhrzeit der Explosion von Tschernobyl. Was wiederum die „Märtyrer-Rolle“ unserer Hauptfigur verstärkt. Und dann wäre da natürlich noch die Katze.

Waleri Legassow in "Chernobyl"
Leckeres Essen, denkt sich die Katze. Nur wo ist eigentlich Herrchen (Foto: ©Polyband/WVG)?

Eine Katze ohne Gewissen
Jegliche Interaktion einer Figur mit ihrem Umfeld verrät uns etwas über sie. Und manchmal kann dieses Umfeld eben auch ein einfaches Haustier sein. So holt sich Waleri weitere Pluspunkte beim Publikum dadurch ab, dass er vor seinem Tod seiner Katze noch einmal genügend Futter rausstellt. Aufmerksam und fürsorglich – und wieder rückt der Zuschauer etwas enger an Waleri heran.

Doch in der Einführungssequenz von „Chernobyl“ kommt dieser Katze noch eine viel bedeutendere Rolle zu. Denn diese steht symbolisch für den Rest der Welt, welcher das ganze Ausmaß der Katastrophe und deren Hintergründe nicht wirklich kennt. Und sozusagen ahnungslos ist. So liegt die Katze am Anfang unschuldig auf der Couch und registriert am Ende nicht einmal den Tod ihres Herrchens. Stattdessen endet die Einführung von Waleri mit eben dieser Katze, die sich unbeeindruckt die Pfoten leckt. Ablecken, weitermachen. So als ob nichts gewesen wäre. Waleri ist nur ein kleines Rad, sein Tod wird nicht wirklich etwas verändern. Und so zieht ausgerechnet eine Hauskatze das tragische Fazit über die Rolle der Hauptfigur. Welch passendes Schlussbild für eine von solcher Tragik geprägte Charaktereinführung.

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