Film

Nicole und Charlie Barber – Marriage Story

Großartige Charaktereinführungen gibt es selten. In „Marriage Story“ dafür gleich doppelt. Durchbrechen mit ihren wundervollen gegenseitigen Liebeserklärungen die Struktur dieses Blogs: Nicole und Charlie Barber.

Marriage Story (2019) – Die Story

Drehbuch: Noah Baumbach
Der erfolgreiche Theaterregisseur Charlie (Adam Driver) wird von seiner Frau Nicole (Scarlett Johansson) verlassen. Den gemeinsamen 8-jährigen Sohn Henry nimmt diese gleich mit. Und sie bittet die Scheidungsanwältin Nora darum, auch offiziell in der Sache ein (möglichst sanftes) Ende einzuläuten. Doch der Scheidungsprozess beginnt schon bald sich in ein Schlachtfeld zu verwandeln.

 

Die Einführung von Nicole und Charlie Barber

„Marriage Story“ beginnt mit zwei Liebeserklärungen. Charlie legt los. Er beschreibt im Off, was er alles an Nicole liebt. Dazu werden uns die passenden Alltagssituationen gezeigt. So erfahren wir, unter anderem, dass Nicole eine großartige Zuhörerin ist (sie quatscht mit Tierschützern auf der Strasse), genau weiß, wie man Familienprobleme löst (sie drängt Charlie zu einem Anruf) und toll mit Kindern spielen kann (wir sehen sie liebevoll mit Henry spielend). Nicole, so Charlie weiter, weiß auch genau, wann man ihn zu etwas drängen und wann man ihn besser in Ruhe lassen muss. Sie macht tolle Geschenke (wir sehen wie Charlie eine Trompete auspackt), schneidet der kompletten Familie die Haare und kann nur ungern verlieren. Dazu hat sie eine mögliche Fernsehkarriere an den Nagel gehängt und ist extra für Charlie nach New York gezogen (wir sehen, wie sie unter seiner Anleitung auf einer Bühne Theater spielt). Zum Abschluss seiner Beschreibung bezeichnet Charlie Nicole als seine Lieblingsschauspielerin.

Charlie Barber in "Marriage Story" - Zitat

Nun übernimmt Nicole das Wort. Sie liebt an Charlie, dass dieser so unerschrocken ist. Nicole beschreibt im Off, wie Charlie sein Essen lieber herunterschlingt, anstatt es zu genießen. Gleichzeitig sei er aber sehr ordentlich (wir sehen, wie Charlie das T-Shirt seines Sohnes zurechtrückt), weine leicht bei Filmen (Charlie kommt mit Henry aus dem Kino), sei sehr selbstständig (Charlie kocht unter Stress für und zusammen mit seinem Sohn) und läßt sich, im Gegensatz zu Nicole, nur schwer unterkriegen. Sie liebe ihn dafür, dass er ihre Launen erträgt, stets gut gekleidet ist und sich, schon fast zu liebevoll, so intensiv um seinen Sohn kümmert. Aber auch Charlie verliert nur ungern (wir sehen, wie Charlie frustriert vom gemeinsamen Monopoly-Spiel flüchtet). Wir erfahren von Nicole aber auch, dass Charlie eine schwierige, von Alkohol und Gewalt geprägte Kindheit hinter sich hat. Und trotz (oder wegen) dieser Vorgeschichte gerne die Menschen um sich herum zu einer Einheit schweißt. Ein Mann, der immer genau weiß, was er will.

Nicole Barber in "Marriage Story" - Zitat

Die Stimme von Charlie ertönt. Er ruf „Stop“. Wir sind auf der Theaterbühne, auf der Nicole für ihren Mann spielt. Kritisch nähert Charlie sich ihr. Nicole wartet auf seine Anweisungen. Charlie denkt nach. Cut. Die „Vorstellung“ ist vorbei und wir befinden uns im Büro eines Paarberaters. Hier stellt sich heraus, dass die gerade gehörten Worte die Notizen von Charlie und Nicole waren, welche die beiden sich auf Anweisung des Paarberaters zum jeweils anderen haben einfallen lassen. Müssen. Mit der romantischen Stimmung ist es jetzt aber vorbei…

Die Analyse

In diese Einführung muss man sich einfach verlieben. Weil genauso viel Liebe dort auch drin steckt. Und Gehirnschmalz. „Marriage Story“ darf man getrost als kleines Lehrstück bezeichnen. Ein Lehrstück darüber, was passiert, wenn man bei einer Einführung einfach alles richtig macht. Trotz dem hier ja öfters mal kritisierten Voice-Over. Aber hier wird dieses Stilmittel endlich mal richtig clever und vor allem einfühlsam eingesetzt. Um dem Zuschauer den perfekten Mix aus kleinen Marotten und wichtigen Hintergrundinfos zu den Figuren zu liefern. Und um gleichzeitig auch geschickt die anstehenden Konflikte schon einmal anzuteasern und vorzubereiten. Man könnte gefühlt ein ganzes Buch über die Einführung von Nicole und Charlie verfassen. Wir probieren es hier besser mal im handlicheren Blogformat.

Es lohnt sich ja generell immer zu erst einen Blick auf die genaue Herausforderung zu werfen, der sich der Autor stellen musste. Wo steigt man also mit den Figuren ein, wenn man einen herzzerreißenden Scheidungsprozess auf Film bannen möchte? So ein Film kann emotional nur beim Publikum funktionieren, wenn dieses versteht, warum das Paar sich einst überhaupt mochte. Sonst wird das schwierig mit dem Nachvollziehen und Mitfühlen. Man kann ja nur mitfiebern, wenn man weiß, was auf dem Spiel steht. Und Sympathie für die Figuren braucht es für den Zuschauer ja auch noch. Aber so etwas aufzubauen benötigt doch verdammt viel Zeit. Oder nicht?

Nicole und Charlie Barber in "Marriage Story"
Los geht es mit liebevollen Briefen. Doch die Paarberatung zieht dann die Stimmung in den Keller (Foto: ©Netflix).

Sympathie für Streithähne
„Marriage Story“ entscheidet sich für eine clevere Lösung. Und läßt seine Hauptfiguren beim Paarberater emotional in Briefform in ihrer gemeinsamen Vergangenheit schwelgen. Was gegenüber dem Zuschauer aber erst danach aufgelöst wird. So webt man clever ein bisschen unschuldige Romantik und Liebe in die eigentlich „kaltherzigere“ Haupthandlung ein. Und zeigt uns die beteiligten Figuren erst einmal von ihrer angenehmen Seite. Gute Ausgangsidee, um Sympathien zu wecken. Aber, wie Fussballer so gerne sagen: „Entscheidend is auf’m Platz“. Und genau bei der Umsetzung dieser Grundidee brilliert „Marriage Story“.

Beginnen wir eher nüchtern. Was erfahren wir denn in der Einführung alles an Background über unsere Hauptfiguren? Antwort: jede Menge. Darunter ziemlich bedeutsame Hintergrundinfos, wie die über die schwere Kindheit von Charlie. Oder Nicoles Entscheidung gegen eine Hollywoodkarriere und für ein Leben an der Seite ihres Mannes. Präsentiert als Voice-Over wirken solche Fakten selten natürlich und oft lieblos dahin geklatscht. Ähnlich sollte es sich eigentlich mit dem Moment verhalten, in dem Charlie über Nicoles Liebe zu ihrer Familie spricht. Weil dort, allzu offensichtlich, ein gerahmtes Foto genau dieser Familie dann dazu gezeigt wird. Klingt doch eigentlich nicht nach kreativ-eleganter Einführung.

Nicole und Charlie Barber in "Marriage Story"
Ein Gurkenglas zum Verzweifeln. Zeit für Nicoles einmalige Talente (Foto: ©Netflix).

Gezielte Charmeoffensive
Doch trotzdem wirken diese dickeren Informationsbrocken in „Marriage Story“ alles andere als sperrig. Weil sie wundervoll eingebettet sind in eine Vielzahl von liebevollen und scheinbar unnützen Details. So geht der Szene, in der Charlie über Nicoles Filmkarriere spricht, ein charmantes Gurkenglas-Anekdötchen voraus. Bei dem Charlie am Öffnen eines solchen Glases verzweifelt und dann, mit größter Bewunderung, von Nicoles starken Armen schwärmt. Die prompt darauf das Glas mit links aufmacht. Darauf folgt dann direkt die Passage über Nicoles Vergangenheit in Hollywood. Am Ende dieses Expositions-Schwergewichts folgt dann aber wiederum, ganz leichtfüßig, Charlies Lobeshymne über Nicoles Tanzkünste. Und Bewunderung über ihre Angewohnheit, Ahnungslosigkeit stets offen zuzugeben. Kleine charmante Details, die dafür sorgen, dass die Einführung bloß nicht ihrer Leichtigkeit beraubt wird.

Das macht „Marriage Story“ schon verdammt clever. Und zwar mit System. Immer wieder. So lobt Nicole Charlie dafür, dass er Menschen darauf aufmerksam machen kann, wenn sie etwas zwischen den Zähnen haben, ohne diese dabei bloßzustellen. Was für ein scheinbar unnützes Hintergrundwissen. Dem dann eine Szene folgt, in der Nicole über Charlies tragische Kindheit spricht, die von Alkohol und Gewalt geprägt war. Und was folgt auf dieser harten Tobak? Ein leichtfüßiges Lob über Charlies Fähigkeit Menschen zusammenzubringen. Und so federt „Marriage Story“ immer wieder die Last seiner großen Informationsbrocken geschickt durch eine unterhaltsame Verpackung aus charmanter Charakterzeichnung ab. Wodurch die ganze Einführung scheinbar federleicht daherkommt – obwohl wir auf sehr direkte Art und Weise essentielle Eckpfeiler zu den Hauptfiguren geliefert bekommen.

Nicole und Charlie Barber in "Marriage Story"
Selbst ist die Familie. Ist allerdings schlecht für die Friseurbranche (Foto: ©Netflix).

Realismus verbindet
Das „Marriage Story“ aber größere Charakterinformationen mit vielen kleineren Charaktermomenten unterfüttert, hat noch einen weiteren wichtigen Grund. Es läßt nämlich die Liebeserklärung der beiden Hauptfiguren an den jeweils anderen erst so richtig realistisch erscheinen. Und damit auch deren Ehe. Schließlich sind es ja die vielen kleinen Marotten und verborgenen Talente des Partners, die man erst nach einer längeren Beziehung entdecken kann.
Genau deswegen baut „Marriage Story“ Momente ein, in denen das Öffnen eines Gurkenglases, das Fahren mit Gangschaltung, das Weinen nach Kinofilmen, das gemeinsame Haareschneiden, das ständige Vergessen gefüllter Teetassen oder auch die Art und Weise wie ein Sandwich gegessen wird, von dem jeweils anderen Partner aufgegriffen und kommentiert wird.

Und um das Ganze noch realistischer wirken zu lassen, vermeidet „Marriage Story“ auch den Fehler, seine Figuren einfach nur blind voneinander schwärmen zu lassen. So ist es Charlie schon fast etwas zu viel, wie gerne und lange Nicole anderen Leuten zuhört. Und welche Unordnung diese manchmal hinterläßt. Nicole wiederum ist fast ein klein bisschen genervt davon, wie liebevoll Charlie mit Henry umgeht oder, dass dieser so energiebewusst ist. Realismus schafft Identifikation. Gleichzeitig verrät natürlich die Art und Weise, wie die beiden über den anderen Partner reden, auch einiges über die Figuren selbst. Womit durch das Voice Over hier also sozusagen eine Art „doppelte Einführung“ gelingt.

Nicole und Charlie Barber in "Marriage Story"
Besser hinsetzen, wenn sich die eigene Frau mal wieder in Rage redet (Foto: ©Netflix).

Der Zuschauer als Trauzeuge
Welche Charaktereigenschaften Charlie und Nicole jeweils an dem anderen besonders bewundern, verrät dann also auch gleich etwas über den Partner selbst. Und hier wird es in der Einführung dann auch richtig spannend. Zum einen, wird so natürlich noch einmal deutlich vermittelt, warum diese beiden Figuren sich einst füreinander entschieden haben. So bewundert Charlie an Nicole, dass, immer wenn er in eine Sackgasse gerät, sie genau weiß, wann sie ihn zu etwas zwingen oder doch lieber in Ruhe lassen soll. Eine perfekte Ergänzung, diese Frau. Umgekehrt gibt Nicole zu, dass sie sich auf Charlies Ordnungsliebe verlassen kann und er alle ihre Launen erträgt. Passt also auch gut.

All dies macht die Figuren realistischer, ihre ehemalige Liebe überzeugender und verrät uns dazu noch wichtige Infos zu deren Charakteren. Gleichzeitig nutzt der Film diese Momente aber auch clever, um hier bereits ein gewisses Machtgefälle zwischen den Figuren zu etablieren. Ein Machtgefälle, das, wie sich später im Film herausstellen wird, der Grund für die Trennung von Seiten Nicoles ist.

Nicole und Charlie Barber in "Marriage Story"
Der Regisseur gibt Anweisungen. Die Frau gehorcht (Foto: ©Netflix).

Das Machtgefälle der Figuren
„My crazy ideas are here favourite things to figure out how to execute“ meint Charlie über Nicole am Ende seines Briefes. Nicole als ausführende Kraft, Charlie als führender Ideengeber. Nicole die ihn bewundert und dann auf der Bühne seinen Anweisungen folgt. Dieses Machtgefälle wird durch Nicoles dann folgende Ausführungen weiter unterstrichen. Deren Unzufriedenheit mit sich selbst tritt dabei deutlich zu Tage. Gleichzeitig wird so auch angedeutet, dass hier in dieser Beziehung irgendetwas schon immer unter der Oberfläche brodelte.

So spricht Nicole darüber, wie Charlie sich von niemand anderem von seiner Meinung abbringen läßt und meint, mit nachdenklicher Stimme: „He rarely gets defeated, which I feel I always do.“ Um später noch zu ergänzen, dass er, im Gegensatz zu ihr, ja immer wüsste was er will. Hier werden also schon geschickt die ersten Brotkrumen auf unsere Suche nach einem möglichen Konfliktherd gestreut. Aber da ist noch mehr.

Nicole und Charlie Barber in "Marriage Story"
Nicole ist die perfekte Spielpartnerin (Foto: ©Netflix).

Viel Leidenschaft, viel Konflikt
Es gibt zwei ganz markante Eigenschaften der beiden Figuren, denen in dieser Einführung eine sehr bedeutsame Rolle zukommt. Da beide für den weiteren Verlauf des Konflikts wichtig sein werden. Da ist einmal die Liebe der Beiden zu ihrem Kind. Beide beschreiben den jeweils anderen als extrem fürsorgliches Elternteil. Nicole, die mit Henry bis zum Umfallen spielt und liest. Und Charlie, der sich nachts rührend um seinen Sohn kümmert. Diese unglaublich starke Liebe zum Sohn wird im weiteren Verlauf zu einem entscheidenden Faktor im Streit um das Sorgerecht. Kein Wunder, dass der Film die Hingabe der zwei zu ihrem Kind so deutlich zeigt.

Und dann gibt es ja noch das Monopoly-Spiel. Sowohl Charlie als auch Nicole beschreiben sich gegenseitig als Menschen, die nicht verlieren können. Wir sehen beide beim gemeinsamen Familien-Monopoly und wie beide, im Angesicht der Niederlage, vollkommen frustriert sind. Ein Detail mit einer unglaublich wichtigen Botschaft. Diese Beiden spielen immer auf Sieg. Und kämpfen dafür bis zum bitteren Ende. Zusammen mit der etablierten starken Liebe zum eigenen Kind wird so geschickt schon jetzt die Grundlage für den aufkommenden Konflikt gelegt.

Nicole und Charlie Barber in "Marriage Story"
Gehe nicht über Los. Rege dich lieber direkt auf (Foto: ©Netflix).

Ein leichtfüßigs Meisterstück
„Marriage Story“ packt einfach unglaublich viel in die Einführung seiner beiden Hauptfiguren. Und das muss es auch, um bei dieser Story und mit dieser Figurenkonstellation beim Zuschauer wirklich Empathie hervorzurufen. Dafür nimmt der Film sich aber auch die Zeit und investiert knapp acht Minuten in die Einführung seiner zentralen Protagonisten. Wobei im Stakkato-Tempo Informationen über unsere beiden Hauptfiguren auf den Zuschauer losgelassen werden. So ausführlich lernt man seine Hauptfiguren selten zu Beginn kennen, doch genau so sichert sich der Film den emotionalen Unterbau für das, was noch folgt.

Die Art und Weise, wie das hier geschieht, ist wirklich bemerkenswert. Die Liebe zum Detail, der Mix aus kleinen und großen Charakterhäppchen und die Leichtfüßigkeit, mit der nicht nur Figuren eingeführt, sondern auch deren zentralen Konflikte schon einmal angeteasert werden – all das macht die Einführung von „Marriage Story“ zu einem kleinen Meisterstück. Ach was, zu einem Großen. Dem übrigens auch der Übergang ins nächste Kapitel perfekt gelingt. Wir enden mit Charlie, der Nicole mit einem lauten „Stop“ in ihrem Spiel unterbricht. Und sind dann auf einmal bei der Paarberatung, wo Nicole nun genau dieses Machtgefälle durchbricht und sich weigert, auf Charlies Vorschläge einzugehen. Ein neues Kapitel wird aufgeschlagen – perfekt vorbereitet durch eine vielschichtige Einführung der beiden zentralen Protagonisten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert